Gedanken und Thesen zum Tag der deutschen Einheit

Wenn dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis zum Tanzen. So sagt man. Der Esel, das bin in diesem Fall mal wieder ich und das Eis, nun, dass sind einige Überlegungen zur Wiedervereinigung, die mir durch den Kopf gehen und die ich hier teilen möchte. Diese Überlegungen werden werden sehr persönlich sein – das, was mir durch den Kopf geht, beruht auf meiner ganz eigenen und persönlichen Geschichte und deren Deutung, wie sie sich in den letzten 30 Jahren eingeschliffen hat. Und es wird provokant, für manche Menschen vielleicht gar eine Zumutung werden. Nun, ich bin mir bewusst, nicht immer im Einklang mit den gängigsten oder verbreiteten Erklärmustern zu sein; genau dafür ist dies ja meine eigene Zweifel- und Denkseite.

Dabei muss ich vorab sagen, dass, wenn es Menschen gibt, die ohne jeden Zweifel von der Wende 1989/90 profitiert haben, ich auf jeden Fall und in ganz erheblichem Ausmaß dazugehöre. Ich stamme aus einer Familie, die wenn vielleicht nicht im offenen Widerstand zum System stand, so doch keinesfalls angepasst war. Zumindest ist ein Ausreiseantrag kein unbedingter Beleg für Systemtreue gewesen. Auch das Arbeiten in der Verwaltung einer evangelischen Kirchengemeinde sowie die Nichtmitgliedschaft in „der Partei“ oder einer der „Blockflöten“ der „Nationalen Front“, d.h. Ost-CDU, LDPD, Bauernpartei etc. führten dazu, dass meine Eltern mitnichten als „linientreu“ galten. Aus diesem Grund und wegen der in der DDR praktizierten Sippenhaft wäre vermutlich mein weiterer Werdegang im Osten kein einfacher gewesen.

Bis 1989 haben meine Eltern zwar schon darauf geachtet, dass mir durch ihre Entscheidungen keine Nachteile entstehen, so war ich brav bei den Jung- und Thälmannpionieren mitgelaufen, hab fleißig an den „Sero“-Wertstoffsammeltagen und anderen Pioniernachmittagen teilgenommen und lernte sogar ab der 3. Klasse Russisch an der „Schule der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft Juri Gagarin“, aber früher oder später wäre der Tag gekommen, wo mich die Systemverstöße meiner Eltern eingeholt hätten oder ich zwischen einer Karriere im System einerseits oder meinen Eltern andererseits hätte entscheiden müssen. Ich gebe zu: Ich bin dem gütigen Schicksal – oder dem Herrgott, ganz nach jeweiliger Neigung – zutiefst dankbar, dass es nie so weit kam, dass dieser Spuk DDR, den als Spuk zu begreifen ich damals eher noch zu jung war, dass dieser sich verflüchtigt hatte, bevor das System so richtig auf mich aufmerksam werden konnte. Vermutlich hätte ich irgendwie versucht, mich „durchzulavieren“, angepasst, verbogen mich durchzumogeln, jedoch ohne jegliche innere Leidenschaft und Überzeugung. Ich denke, diesen „U-Boot-Tauchmodus“ versuchen viele Menschen instinktiv als Überlebensstrategie in Diktaturen anzuwenden. Gleichwohl, es bleibt Spekulation, darüber nachzudenken, wie es hätte werden können.

Heute genieße ich meine Freiheit, tun, denken, sagen, schreiben, machen zu können, was ich will. Diese Freiheit ist ein unvorstellbares Geschenk, das mir durch die glückliche Fügung der Wende zugefallen ist. Zugleich kann ich, da ich damals zu jung war, das ganze Ausmaß der Unfreiheit in der DDR zu erkennen und es zu begreifen, nur im Ansatz ermessen, wieviel Glück ich tatsächlich mit der Wende gehabt habe. Ich bin für diese Freiheit und das, was ich 1989 gewonnen habe so dankbar, dass ich buchstäblich mit meiner Berufswahl geschworen habe, „Recht und Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.“ So gesehen bin ich glücklich und sehr zufrieden über das Ende der DDR und mit meiner Ankunft im „Westen“. Ist also „alles schick“?

Nun, wenn man die gegenwärtigen Debatten rund um den 3. Oktober verfolgt -und es wurde dieser Tage sehr viel geschrieben, gesagt, gesendet, getwittert, von berufener wie auch sehr unberufener Seite- wenn man also die Debatten verfolgt, ob denn eine Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West gelungen ist, wo noch Unterschiede bestehen und wieso es in einigen Bereichen recht signifikante Unterschiede zwischen Ost und West gibt, so kann man durchaus zu der Vermutung gelangen, dass im geeinten Deutschland auch nach 29 Jahren eben „nicht alles schick“ ist. Ein paar jener Wermutstropfen, die auch meine ganz persönliche Feierstimmung anlässlich jenes Freudentages trüben, möchte ich im Folgenden als Thesen formuliert näher betrachten. Diese Thesen stehen zum Teil miteinander wechselseitig im Bezug, daher werden Überschneidungen oder Redundanzen im Folgenden nicht ganz vermeidbar sein.

These 1: Die „Revolution“ frisst ihre Kinder

Hier steckt der Teufel bereits in der Formulierung. Ich habe das Wort „Revolution“ in Anführungsstriche gesetzt. Für das, was 1989/90 geschah, finden sich viele Begriffe in der Literatur und mehr noch in der Alltagssprache: „Wende“, „friedliche Revolution“, „Wiedervereinigung“ sind die gängigsten. Möglicherweise sind alle Begriffe irgendwie passend und auch wieder nicht – die Ereignisse, die zum Ende der DDR führten, erstrecken sich über einen längeren Zeitraum. Das letzte Kapitel der DDR ist gut 1,5 Jahre lang, beginnt mit den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 und endet mit dem formalen Beitritt der neuen Bundesländer zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990.

Ausgelöst von massiven Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 1989 entlud sich der bei Oppositionsgruppen und „Randmilieus“ in der DDR bereits länger angesammelte Frust und es kam zu ersten noch sehr kleinen und überschaubaren Montagsdemonstrationen, v.a. in Berlin und Leipzig. Getragen wurden diese meist von kirchennahen Gruppen und Aktivisten. Ich erinnere mich noch, wie meine Mutter von der Arbeit heimkam und sagte, eine ihrer Kolleginnen hätte in die Runde gesagt: „Feiert dieses Jahr den Republikgeburtstag richtig ordentlich, es wird der letzte sein.“ Und in der Tat, was aus jenen zarten Pflänzchen der ersten kleinen Montagsdemos im Mai und Juni 1989 bis zum November des gleichen Jahren erwachsen sollte, war nichts mehr und nichts weniger als das Ende eines diktatorischen Unrechtsstaates. Nur diejenigen, die im Frühjahr 1989 damit begannen, mochten vielleicht erahnen, dass die Chancen für einen Wandel in der DDR so gut wie nie zuvor standen, hatte doch v.a. in der Sowjetunion mit „Glasnost“ und „Perestroika“ unter Gorbatschow ein wesentlicher Umschwung eingesetzt, der Anlass für die Hoffnung gab, dass sich ein 17. Juni 1953 nicht wiederholen würde.

Die Frage war jedoch, ob das DDR-Regime aus eigener Kraft noch willens und in der Lage war, eine erstarkende Opposition zu unterdrücken oder eben nicht. Somit war in diesem Stadium der „Wende“ ein oppositionelles Auftreten, eine offene Sympathiebekundung, gar eine Teilnahme an Montagsdemos noch mit persönlichem Risiko verbunden. Ich weiß noch, dass in meiner Schulklasse auch im Juni 1989 nicht viele Mitschüler eines jener grünen Bänder sichtbar trugen, die meistens aus Geschenkband bestehend als inoffizielles Erkennungszeichen der Oppositionsbewegung galten. Als meine Eltern schließlich mit mir im Schlepptau erstmals auf eine Montagsdemo gingen, ich meine Anfang November 1989, da war der „Drops ja eigentlich gelutscht“, das System hatte klargemacht, dass es nicht zur Gewalt greifen würde – auch wenn ich die Sprechchöre „Keine Gewalt!“, die über den Boleslaw-Bierut-Platz hallten, mein Lebtag nicht vergessen werde.

Und Mitte Oktober, meine Mutter und ich holten gerade meinen Vater von der Arbeit ab, kam im Radio die Nachricht, dass Honecker zurückgetreten sei und von einem gewissen Egon Krenz beerbt wurde. Alles, was nicht Honecker war, klang nach Veränderung, und jede Veränderung klang erstmal gut. Der Punkt jedoch ist dieser: All diejenigen, die im Frühjahr und Sommer zumindest mit erheblichen persönlichen Risiko und zum Teil auch mit tatsächlichen negativen Konsequenzen, demonstriert und gegen das System aufbegehrt haben, wurden im folgenden Verlauf der Ereignisse von eben jener Entwicklung überrollt, die sie selber angestoßen hatten. All jene „grassroots“-Bewegungen, die sich „Neues Forum“, „Demokratie Jetzt!“ oder „Initiative Frieden und Menschenrechte“ nannten, spielten spätestens ab den Volkskammerwahlen im März 1990 keine Rolle mehr.

Der Zug des Umbruches hatte Fahrt in Richtung Wiedervereinigung aufgenommen, die professionellen Politikvermarkter aus dem Westen hatten das Heft des Handelns nicht nur erkannt, sondern übernommen und das Volk folgte ihnen bereitwillig. Mit dem Slogan „Keine Experimente“ ging die Ost-CDU, die im Dezember 1989 noch flugs aus der „Nationalen Front“ der Einheitsparteien der DDR ausgebrochen und in die Arme der großen Schwester im Westen geflüchtet war, ins Rennen. „Wendehälse“ war ein zu jener Zeit sehr häufig gerauchter Begriff meines Vaters. Die SPD hatte sich nach langem Ringen die „USPD“ der Wendephase untergeschnallt. Und beide Parteien gingen mit ihrer westdeutschen Politprominenz in den Wahlkampf Anfang 1990: Helmut Kohl tourte ebenso durch die DDR wie Willy Brandt mit seinem „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, während für die FDP der Ur-Hallenser Hans-Dietrich Genscher Stimmen einfing.

Und so wurde die Bürgerrechtsbewegung der DDR noch ehe sie sich richtig auf eigene Ziele und Wunschvorstellungen hätte einigen können, zwischen Altkommunisten, Stalinisten und überzeugten Systemtreuen, ergänzt um einige Reformkommunisten auf der einen Seite und den Westimporten, die eine schnellstmögliche Abwicklung der DDR und Wiedervereinigung propagierten, zerrieben. Schlappe 2,9% der Wählerstimmen erhielt das Wahlbündnis aus „Neuem Forum“, „Demokratie Jetzt“ und der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ am 18. März 1990. Ein magerer Lohn für die „Bündnis 90“ genannten Gruppierungen, die mit ihren Protesten erst die Wende ermöglicht hatten. Aber „Keine Experimente“ hatte sich halt durchgesetzt und dies war in der ex-post-Betrachtung vor allem mit Blick auf die ökonomische und gesamtgesellschaftliche Rahmenlage der DDR wohl auch inhaltlich alternativlos. Jene prophetische Kollegin meiner Mutter war übrigens in den Jahren nach der Wende Landesgeschäftsführerin des „Bündnis 90“ in Sachsen-Anhalt.

These 2: Helmut Kohl ist nicht der Kanzler der Einheit

Zutreffender wäre nach meinem Dafürhalten die Formulierung: Helmut Kohl war Kanzler, als die Einheit verwirklicht wurde. Die obenstehende Formulierung aus den Geschichtsbüchern personalisiert mir zu sehr und überbewertet den Einfluss einer Einzelperson auf den Lauf der Geschichte. Wie in der vorangegangenen These bereits dargestellt, waren es vor allem Oppositionelle und Bürgerrechtler in der DDR, denen die Verdienste um die Wende zukommen. Wenn man hierbei einem Staatsmann eine besonders herausgehobene Rolle zuweisen möchte, dann ist dies Michail Sergejewitsch Gorbatschow, der bereits Mitte der 80er mit „Glasnost“ und „Perestroika“ die Axt an den eisernen Griff legte, mit welchem die Sowjetunion bis dahin die Staaten des Warschauer Paktes festhielt. Spätestens, als er dann aber beim Berlinbesuch anlässlich des 40. Jahrestages der DDR seinen berühmt gewordenen Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ sagte, war für Kremlastrologen und Auguren klar, dass anders als 1953, 56 oder 68 die Sowjetunion nicht eingreifen würde, wenn es in einem ihrer Satellitenstaaten zu Reformbewegungen käme. Damit war Honeckers Schicksal besiegelt.

Kohls Rolle im Einigungsprozess hat zwei andere Dimensionen: Eine innen- und eine außenpolitische. Außenpolitisch, und hier kann man der uneingeschränkt positiven Bewertung seiner Rolle zustimmen, liegt sein Verdienst darin, die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkannt zu haben und den „Mantel, der im Wind der Geschichte wehte“ ergriffen zu haben. Das Ausverhandeln der 2+4 Verträge mit all ihren Details und Schwierigkeiten, das Abringen der Zustimmung der Alliierten zur Vereinigung, ja, dies sind unbenommen historische Verdienste. Gleichwohl, lohnt auch hier eine Betrachtung im Gesamtzusammenhang: Die Sowjetunion stand, auch wenn dies für die Handelnden 1990 noch undenkbar gewesen sein mag, kurz vor dem Zusammenbruch. Die ökonomische Situation dieser Weltmacht war katastrophal. Flappsig gesagt: Für einen Appel und ein Ei wäre Gorbatschow nahezu zu allem bereit gewesen. Zugleich galt es für alle Beteiligten, einen totalen ökonomischen Zusammenbruch der Sowjetunion zu verhindern. Die Einwilligung Großbritanniens und Frankreichs war ebenfalls mit Zugeständnissen einholbar – die weitergehende Integration Europas, Deutschlands feste und unverrückbare Einbindung in Europa und eine absehbar einzuführende Währungsunion waren die Gegenleistungen Deutschlands. Nun, die Zustimmung der USA schien anno 1990 keine große Herausforderung zu ein. Hinzu kommt, dass an Kohls Seite ein kongenialer Außenminister wirkte. Wenn man Kohl also wegen der Verdienste um die außenpolitische Ausgestaltung des Vereinigungsprozesses als Kanzler der Einheit bezeichnen will, so wertet dies die Verdienste Hand-Dietrich Genschers aus jenen Tagen über Gebühr ab.


Die innenpolitische Dimension von Kohls Rolle im Einigungsprozess sehe ich eher kritisch. 1988 war die Kanzlerschaft Kohls ein Scherbenhaufen. In Umfragen lag die SPD erstmals vor der CDU, die FDP drohte von der Stange zu laufen und über 50% der Deutschen befürworteten einen Regierungswechsel hin zur einer sozialliberalen Koalition. Zugleich drohte mit dem Auftauchen der „Grünen“ die Etablierung einer neuen Kraft mit eigener Dynamik im „linken Lager“. Die Kanzlerschaft des „Dicken aus Oggersheim“, in Satiresendungen häufig nur „Birne“ genannten, war quasi am Ende. Es waren die Ereignisse der Jahre 89 und 90 und die extrem ungeschickte Umgangsweise des SPD-Kanzlerkandidaten Lafontaine mit der Frage der Wiedervereinigung, die Kohl in 1990 dann erdrutschartige Wahlerfolge bescherten.

Erkauft wurden diese Wahlsiege vor allem im Osten mit dem Versprechen der „Blühenden Landschaften“, einer Heilserwartung der Ostdeutschen an den „goldenen Westen“. Auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhanges herrschte zum Teil ein unklares und vollkommen überzogen idealisiertes Wunschbild vom „Westen“, eine Erwartungshaltung und Projektion, die Kohl und sein Wahlkampfteam wahrscheinlich bewusst, mindestens jedoch fahrlässig im Wahlkampf zu ihren Zwecken befeuerten. Die demokratie- und wahlkampfunerfahrenen Ostdeutschen gingen ihm auf den Leim. Allerdings folgte alsbald der Realitätsschock: Nach dem vorhersehbaren Zusammenbruch der abgewirtschafteten DDR-Großbetriebe und den massenhaften Entlassungen im Osten wurde Kohl bereits 1991 in Halle mit „Lügner“-Rufen und Eierwürfen empfangen. Offenkundig war die Heilserwartung enttäuscht worden und die „blühenden Landschaften“ mussten noch einige Jahre auf sich warten lassen.

These 3: It’s the economy, stupid

Mit dieser kurzen Formel wird insbesondere in den USA das Geheimnis von erfolgreichen Wahlkämpfen beschrieben. Ironischerweise stammt dieser Satz aus den Jahren 1991/92 und wurde vom Wahlkampfstrategen Bill Clintons geprägt. Somit ist diese Weisheit erst nach der Wendezeit zum geflügelten Wort geworden, beschreibt aber sehr gut, warum und weshalb die Wende so verlaufen ist, wie wir es heute in den Geschichtsbüchern lesen können.

Bereits bei der ersten These hatte ich kurz erwähnt, dass es für die Ereignisse der Jahre 1989/90 verschiedene Bezeichnungen gibt: Wende, Wiedervereinigung und friedliche Revolution. Und gerade mit dem Begriff „Revolution“ tue ich mich etwas schwer, um ehrlich zu sein. Angestachelt und im Inneren politisiert durch die Wendejahre habe ich später Politikwissenschaft studiert und bin dabei mit Hannah Arendt und ihrem Werk in Berührung geraten. In „Über die Revolutionen“ sieht sie als einzige Aufgabe und Zielsetzung einer Revolution die Ermöglichung der Freiheit. Revolutionen, die andere Zwecke verfolgen, die z.B. versuchen, soziale Fragen zu lösen, sind in der Regel zum Scheitern verurteilt, weil sie die Freiheit mit Notwendigkeiten vermengen. Wo aber Notwendigkeiten oder Alternativlosigkeiten ins Spiel kommen, da gibt es keinen wirklichen Handlungs- und Gestaltungsspielraum. Handeln setzt bei Hannah Arendt stets voraus, dass das handelnde Subjekt die freie Auswahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten hat. Das Notwendige ist dennoch und gleichwohl zwar notwendig und muss getan werden, nur führt es eben nicht zur Freiheit.

Dieser kurze Rekurs auf Hannah Arendt an dieser Stelle ist meiner Auffassung nach hilfreich, bei der Einordnung der Ereignisse in der DDR 1989/90. Anfangs waren die Slogans bei den Montagsdemos „Keine Gewalt“, „Wir bleiben hier“ oder das berühmte „Wir sind das Volk“. Diesen Slogans ist zu eigen, dass sie auf eine Veränderung der politischen Verhältnisse innerhalb der DDR abzielen. Insbesondere das „Wir bleiben hier“ bildete einen trotzigen und entschlossenen Kontrast zu den Bildern mit all jenen Unzufriedenen, die über Ungarn oder Prag „rübergemacht“ waren. Die Botschaft an die Regierenden war unmissverständlich: „Wenn Ihr versuchen wollt, Dampf aus dem Kessel zu lassen und hofft, uns so loszuwerden, habt Ihr Euch getäuscht. Wir bleiben. Und wir wollen entscheiden, was hier passiert.“ Ein halbes, vielleicht auch ein dreiviertel Jahr später jedoch hatten sich die Slogans verändert: Aus „Wir sind das Volk“ war „Wir sind ein Volk“ geworden. Und das „Wir bleiben hier“ hatte sich in „Kommt die DM nicht nach hier, gehen wir zu ihr.“ gewandelt. Aus primär politischen Forderungen waren ökonomische geworden.

Oftmals hörte man damals, die DDR sei als eigenständiger Staat nicht überlebensfähig, eine Wiedervereinigung sei mit Blick auf Wirtschaft, Abwanderung etc. die einzige Alternative. Nun, dies mag alles korrekt sein. Nur: Wie in jenem Rekurs zu Hannah Arendt dargelegt, Alternativlosigkeit und Notwendigkeit sind nicht Freiheit. Dies fiel nur lange Zeit kaum ins Gewicht, da das System, welches zukünftig die ökonomischen Notwendigkeiten bedienen sollte, ein vergleichsweise liberales und freies System war, wenn auch kein perfektes.

Nun, nach 30 Jahren ist dieser Punkt dennoch von Bedeutung, um ein, zwei Missverständnisse offenzulegen, die mit jener Wendezeit verbunden sind. Wenn „der Ossi“ heute die Freiheit, welche ihm die Wiedervereinigung brachte, nicht schätzt und gar über die Zustände in Deutschland zu meckern wagt, dann speist sich dies aus zwei Quellen: Diejenigen, die vor 30 Jahren primär der politischen Freiheit wegen auf die Straße gingen, sind unzufrieden, weil im Zuge der Wiedervereinigung nie ergebnissoffen über das Thema „Freiheit“ verhandelt wurde; diese Diskussion wurde von den wirtschaftlichen und sozialen Notwendigkeiten verdrängt. Zugleich gab es auf der westlichen Seite Deutschlands nur wenig Anlass und Bereitschaft, das eigene System kritisch auf seinen tatsächlichen Freiheitsgehalt abzuklopfen. Und so wurden die Schwächen im westdeutschen System, wie die extrem starke Verknüpfung von Freiheit und Wohlstand, aus der eine gefühlte Unfreiheit der weniger Wohlhabenden resultiert, nicht angegangen.

Und die zweite Quelle für die vermeintliche Undankbarkeit der Ossis sind diejenigen, denen es 1990 gar nicht um Fragen der politischen Freiheit ging, sondern die aus rein ökonomischen Interessen auf die Straßen gegangen waren. Aus welchem Grund sollten diese Menschen für die gewonnene Freiheit dankbar sein? Was dort zählt ist der soziale Status in Relation zur Gesamtbevölkerung. Und dort stellt man zunehmend frustriert fest, dass man in der erinnerten und zum Teil imaginierten DDR der Vergangenheit zur relativen Mittelschicht gehörte und nun als „der doofe Ossi“ im geeinten Deutschland im Vergleich zum „Besserwessi“ die Leiter eher heruntergefallen ist anstatt aufgestiegen zu sein.

These 4: Fehlende demokratische Traditionen

„Die haben ja unsere Werte nie kennengelernt und bringen von zu Hause aus ganz andere eigene Werte mit!“ Dieses Argument hört man heutzutage sehr oft, wenn es um Asylbewerber oder Flüchtlinge geht, die nach Deutschland gekommen sind. Meistens, wenn die Menschen aus einem islamischen Land stammen. Ein kurzer Blick in die eigene Geschichte und die eigene demokratische Tradition sollte an dieser Stelle vielleicht ein wenig bescheidener machen. Verwundert den Kopf schütteln kann und muss man aus heutiger Sicht auch, wenn man Dinge, die in Deutschland lange Zeit vollkommen normal waren, aus heutiger Perspektive betrachtet. Als Beispiele seien an dieser Stelle der jahrelange Umgang mit Themen wie Homosexualität, dem Eherecht oder der Vergewaltigung innerhalb der Ehe genannt. Gut, dies hat primär nichts mit demokratischer Tradition und Werten zu tun, aber sei der Vollzähligkeit mal an dieser Stelle genannt, um zu illustrieren, dass Dinge, die aus heutiger Sicht elementar zu einer freien und liberalen Gesellschaft gehören, erst vor gar nicht allzu langer Zeit zum Teil gegen erbitterte Widerstände erkämpft werden mussten.

Zurück zur demokratischen Tradition: Der Schweizer Politikwissenschaftler Adolf Gasser konstatierte in den 70er Jahren, Deutschland sei im Gegensatz zu den „altfreien Staaten“ wie der Schweiz oder auch England oder später den USA, ein (spät) „liberalisierter Obrigkeitsstaat“; die Idee, dass die Macht wirklich und vollständig vom Volke ausgeht, „bottom up“, wie man heutzutage neudeutsch sagen würde, fand in Deutschland erst vergleichsweise spät Niederschlag in der Verfassung und noch später und weniger ausgeprägt im praktischen Handeln des Volkes. Alle wesentlichen Stimmen der politischen Theorie und Philosophie, auf die ich mich an dieser Stelle berufen möchte -Aristoteles, Montesquieu, Hannah Arendt, Tocqueville, Kant- sind sich unabhängig voneinander einig: Die Demokratie (oder eine im Wesenskern auf der Demokratie beruhende Mischverfassung) die anspruchsvollste aller Regierungsformen, welche die „Liebe zum Staat“, die „Liebe zu den Menschen und der Welt“, Bildung und ganz, ganz viel praktische Übung und Erfahrung sowie die „guten Sitten und Gebräuche“ erfordert. Kurzum: Demokratie lässt sich nicht über Nacht und per „ordre de Mufti“ verordnen; sie muss über einen langen Zeitraum und idealerweise von unten nach oben wachsen und gedeihen.

Dem seien nur kurz einige Fakten zur Demokratiegeschichte Ostdeutschlands gegenübergestellt: 1871 – 1918 eine stark autoritäre und obrigkeitsfixierte Monarchie mit scheindemokratischem Mäntelchen sowie anschließend bis 1933 eine tief dysfunktionale, wenn auch mit viel gutem Willen gestartete Demokratie. Anschließend 12 Jahre Faschismus, 4 Jahre Besatzung durch eine kommunistische Diktatur, anschließend 40 Jahre Diktatur des Proletariats im real existierenden Sozialismus. Die Zeit vor 1871 war darüber hinaus auch nicht von demokratischen Traditionen geprägt. Also, ich sag mal ganz vorsichtig: Keine wirklich guten Voraussetzungen, um in extrem kurzer Zeit eine funktionierende Demokratie aufzubauen.

Allerdings war dies im Osten Deutschlands auch gar nicht erforderlich – man hatte ja das Vorbild im Westen und konnte die dort etablierte Demokratie direkt und 1:1 übernehmen. Ja. Ein Vorteil? Ich denke, in vielerlei Hinsicht war dies in der Tat ein Vorteil, zumindest hat es die oftmals ungewisse und nicht mit einer Erfolgsgarantie versehene „Konsolidierungsphase“, die gesellschaftliche Umbrüche mit sich bringen, sehr verkürzt und in geregelte Bahnen auf ein stabiles System hingelenkt. Gleichwohl hing und hängt ein wesentlicher Nachteil daran: Während die Westdeutschen 40 Jahre Vorsprung hatten, sich mit der Demokratie, ihren Spielregeln und Besonderheiten vertraut zu machen und in dieser Hinsicht ein recht gut funktionierenden Modus Vivendi gefunden hatten, sollten quasi über Nacht die Ostdeutschen das gleiche Spiel nach den gleichen Spielregeln mitspielen können ohne je dafür trainiert zu haben. Dies war ein ziemlich kaltes Wasser, in dem die Ossis damals landeten (zumal im ökonomischen Sektor, der im Kapitalismus ohnedies eng mit dem politischen Sektor verflochten ist, ein ebenso gravierender Wandel der Spielregeln stattfand). Entsprechend denke ich, dass der gegenwärtig vernehmbare Frust und die Ernüchterung über die noch immer spürbaren Verwerfungen der Wiedervereinigung sich auch hieraus speisen.

Abschließend ließe sich noch fortführen, dass zu alledem, was unmittelbar in jenen Wendetagen an Frustpotential entstanden war, die Entwicklungen der Nachwendezeit, die notwendigen Modernisierungen im Arbeitsalltag, eine weitere Liberalisierung und Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen mit dem Abrutschen immer weiterer Teile der unteren Mittelschicht in prekäre Arbeitsverhältnisse, Abwanderung von Arbeit in Billiglohnländer, Strukturwandel und -anpassungen, Megatrends wie Globalisierung und Digitalisierung zusätzliches Potential für Unzufriedenheit und Rebellion „gegen das neue System“ geschürt haben. Dies jedoch, soll an dieser Stelle nur kurz erwähnt werden, vor allem, weil es keine spezifisch ostdeutschen Herausforderungen sind, sondern im Westen ebenfalls bei den Modernisierungsverlierern für Unmut sorgt.

Also ist alles schlecht? Nein, ich denke, dies wäre auch zu einfach und zu pauschal. Es gibt (hoffentlich) genug Menschen wie mich, die von der Wende profitiert haben. Menschen, die in diesem neuen, liberalen, weltoffenen, anpassungsfähigen und anpassungsfreudigen, neugierigen und zuversichtlichen Deutschland angekommen sind.

Ich jedenfalls habe diesen 29. Jahrestag der Deutschen Einheit genossen und gefeiert. Ich denke, wir sollten uns die Zuversicht und die Freude über das Positive, das mit der Einheit erreicht wurde, nicht madig machen lassen, ohne dabei in blinde Euphorie und „Alles Gut“-Stimmung zu geraten. Diejenigen, die meinen, alles an der Wiedervereinigung sei schlecht (ein paar Gründe habe ich versucht aufzuzeigen), gilt es Tag für Tag aufs Neue zu überzeugen, mitzunehmen in der Hoffnung, dass auch sie oder spätestens die kommende Generation in diesem Deutschland, nein, besser noch: In diesem Europa ankommt.

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